Kapitel 14. Nina Van Gorkom. Abhidhamma im Alltag


Die Funktion von Javana


Wenn wir sehen, hören, riechen, schmecken, Eindrücke mit dem Körper fühlen, oder denken, erlebt nicht nur ein citta das Objekt, sondern eine Serie von citta. Ein rūpa, das eines der Sinne berührt, wird von einer Serie von citta erlebt. Wenn der sinnliche Bewußtseinsprozeß vorüber ist, wird das Objekt von citta durch die Geistpforte erlebt. Citta des sinnlichen Bewusstseinsprozesses und des inneren Bewußtseinsprozesses entstehen und vergehen ohne Unterbrechung.

Wahrscheinlich wissen wir nicht, daß sowohl im sinnlichen Bewußtseinsprozeß als auch im inneren Bewußtseinsprozeß akusala citta und kusala citta entstehen.

Wir sind wohl unwissend über unsere akusala citta und kusala citta im sinnlichen Bewußtseinsprozeß. Weil wir viel Unwissenheit angehäuft haben, kennen wir nicht genau unsere akusala citta und kusala citta, und wir erkennen nicht unsere feineren Befleckungen. Im sinnlichen Bewußtseinsprozeß wird das Objekt zuerst von citta erlebt, die weder kusala citta noch akusala citta sind. Es wird von kiriyā-citta und vipāka-citta erlebt. Das 'aufmerkende Bewußtsein an der Fünfsinnenpforte' (pañca-dvārâvajjana-citta) ist ein ahetuka kiriyā-citta, ein kiriyā-citta ohne sobhana Wurzeln, ohne heilsame oder unheilsame Wurzeln. Es wird von einem der dvi-pañca-viññānas , den fünf Paaren, welche da sind: Sehbewußtsein, Hörbewußtsein, etc. gefolgt. Dieses citta ist ahetuka vipāka. Es folgen zwei weitere ahetuka vipāka-citta: das sampaticchana-citta, welches das Objekt rezipiert, und das santirana- citta, welches das Objekt prüft. Dem santirana-citta folgt das votthapana-citta, welches das Objekt feststellt. Es ist ein ahetuka kiriyā-citta. Das votthapana-citta bestimmt das Objekt und wird dann von kusala citta oder von akusala citta gefolgt.

Wenn man kein arahat ist, folgen dem votthapana-citta im sinnlichen Bewußtseinsprozeß kusala citta oder akusala citta. Sind die citta des sinnlichen Bewußtseinsprozesses fortgefallen, können citta des inneren Bewußtseinsprozesses das Objekt erleben. Zuerst entstehen bhavanga-citta und danach entsteht das mano-dvārâvajjana-citta, welches die Funktion hat, zu dem Objekt an. der Geistpforte aufzumerken. Das mano-dvārâvajjana-citta wird bei 'kluger Aufmerksamkeit' von kusala citta gefolgt, bei 'unkluger Aufmerksamkeit' von akusala citta. Das mano-dvārâvajjana-citta ist weder kusala noch akusala, es ist ein ahetuka kiriyā-citta. Im Falle eines arahat folgen weder kusala citta noch akusala citta. Dem mano-dvārâvajjana-citta folgen dann vielmehr kiriyā-citta.

Da citta unwahrscheinlich schnell entstehen und vergehen, ist es sehr schwer zu wissen, wann genau das votthapana-citta das Objekt feststellt, die folgenden kusala citta oder akusala citta entstehen, und in welchem Augenblick das mano-dvārâvajjana-citta im inneren Bewußtseinsvorgang auf das Objekt hin 'aufmerkt' und von kusala citta oder akusala citta gefolgt wird.

Oft werden wir nicht einmal wissen, ob wir kusala citta oder akusala citta haben. Wenn wir sehen, neigen wir dazu, an das zu denken, was wir sehen, und wir erkennen wohl nicht, ob Zuneigung oder Abneigung zu dem Gesehenen, oder ob Unwissenheit über Wirklichkeiten entstehen. Wenn wir dhamma studieren, erfahren wir mehr über unsere feineren Befleckungen. Unwissenheit über unsere akusala citta ist gefährlich. Wenn wir nicht erkennen, dass akusala citta entstehen, werden wir fortfahren, akusala anzuhäufen.

Kusala citta oder akusala citta, die entstehen, führen eine Funktion aus, z.B. die Funktion von javana, d.h. sie laufen durch das Objekt. Manchmal wird javana mit 'Impulsion' übersetzt. Im sinnlichen Bewußtseinsprozeß hat das votthapana-citta das Objekt bereits festgestellt, bevor javana citta entstehen. Im inneren Bewußtseinsprozeß hat das mano-dvārâvajjana-citta bereits zum Objekt hin 'aufgemerkt', bevor javana-citta entstehen. Somit besteht die einzige Funktion der kusala und akusala citta darin, 'durch das Objekt zu laufen'. Die javana-Funktion wird nicht nur in einem Bewußtseinsaugenblick ausgeführt. Für gewöhnlich führen sieben aufeinander folgende citta diese Funktion aus. Ist das erste javana-citta kusala, so sind auch die folgenden sechs citta kusala citta. Ist das erste javana-citta akusala, so sind auch die folgenden sechs citta akusala citta. Sind wir uns klar darüber, ob die javana-citta in lobha, dosa oder moha verwurzelt sind? Oder ob es kusala citta sind? Meistens sind wir unwissend, auch über javana-citta. Wir können javana-citta eher erleben, wenn wir gute oder böse Taten ausführen.

Es gibt insgesamt 55 Arten von citta, welche die Funktion von javana ausführen können. Zwölf akusala citta können die Funktion von javana ausführen, nämlich: acht lobha-mūla-citta, zwei dosa- mūla-citta und zwei moha-mūla-citta.

Es gibt acht maha-kiriyā-citta des arahat (kiriyā-citta, die nicht ahetuka sind, sondern von sobhana hetu begleitet werden), welche dann die javana-Funktion ausführen. Der arahat erlebt maha-kiriyā-citta anstelle von maha-kusala-citta, da er kein kamma mehr anhäuft.

Maha-kiriyā-citta gehören zum Bewußtsein der Sinnensphäre. Es sind weder jhana-citta, noch sind es lokuttara citta. Auch arahatta haben kāmāvacara citta, sinnliche Bewußtseinsvorgänge. Sie sehen, hören oder denken an Objekte, die sie durch die Sinne erleben. Es entstehen jedoch keine kusala citta oder akusala citta aufgrund dessen, was sie erfahren. Für den arahat gibt es auch ein ahetuka kiriyā-citta, das die javana-Funktion ausführt und entstehen kann, wenn er lächelt: es ist das hasituppāda-citta.

Jene, die rūpa-jhāna, Vertiefung in der feinkörperlichen Sphäre erreichen, können fünf Typen von rūpavacara kusala citta erleben, die dann die javana-Funktion ausführen, da es 5 Stufen von rūpa jhāna gibt. Bei den arahatta, die rūpa-jhāna erreichen, können 5 Typen von rūpavacara kiriyā-citta auftreten, welche die javana-Funktion ausführen.

Bei jenen, die arūpa-jhāna, Vertiefungen in 'Unkörperliche Gebiete' erreichen, können vier Typen von arūpavacara kusala citta die javana-Funktion ausfuhren, da es 4 Stufen von arūpa-jhāna gibt. Arahats, die arūpa-jhāna erreichen, können 4 Typen von arūpavacara kiriyā-citta erleben, die dann die Funktion von javana ausführen.

Jene, die unmittelbar Nibbāna erleben, haben lokuttara citta. Es gibt acht lokuttara citta, von denen vier magga-citta sind ('Pfad-Bewußtsein', 'magga' bedeutet Pfad). Die anderen vier sind lokuttara vipāka-citta, phala-citta genannt ('Frucht-Bewußtsein', 'phala' bedeutet Frucht). Vipāka-citta der anderen Bewußtseinsebenen können nicht die javana-Funktion ausfuhren.

Das trifft für lokuttara vipāka-citta jedoch nicht zu. Sie üben die Funktion von javana aus. Somit erfüllen alle acht lokuttara citta die Funktion von javana. Es gibt insgesamt 55 citta, welche die Funktion von javana ausfuhren. Sie sind:

12 akusala-citta:
• 8 lobha-mūla-citta (citta, die in Zuneigung wurzeln)
• 2 dosa-mūla-citta (citta, die in Abneigung wurzeln)
• 2 moha-mūla-citta (citta, die in Verblendung wurzeln)


8 maha-kūsala citta (kamavacara kusala citta)
8 maha-kiriyā-citta

1 hasituppada-citta (ahetuka kiriyā-citta, das
entstehen kann, wenn der arahat lächelt)

5 rūpavacara kusala citta (rūpa-jhāna-citta)
5 rūpavacara kiriyā-citta (rūpa-jhāna-citta des arahat)

4 arūpavacara kusala citta (arūpa-jhāna-citta)
4 arūpavacara kiriyā-citta (arūpa-jhāna-citta des arahat)

8 lokuttara citta:
• 4 magga-citta
• 4 phala-citta (lokuttara vipāka-citta)


Es kann von großem Nutzen sein, wenn man weiß, daß aufgrund eines Objektes nicht nur ein akusala citta, sondern sieben akusala citta in einem Prozeß entstehen. Dieser Bewußtseinsvorgang kann von anderen akusala javana-citta gefolgt werden. Jedes Mal, wenn wir etwas nicht mögen, entstehen citta-Prozesse, die das Objekt erleben und in jedem dieser Prozesse gibt es sieben akusala javana-citta. Viele akusala citta entstehen aufgrund dessen, was wir nicht mögen oder mögen. Niemand kann die Entstehung von akusala citta verhindern.

Wenn sie im sinnlichen Bewusstseinsvorgang entstehen, hat das votthapana-citta bereits das Objekt festgestellt. Entstehen sie im inneren Bewußtseinsvorgang, hat das mano-dvārâvajjana-citta sich bereits zum Objekt hingewendet. Das erste javana-citta bedingt die Entstehung des zweiten. Und jedes folgende javana-citta wird durch das vorhergehenden bedingt.

Bewußtseinsvorgänge mit akusala javana-citta und solche mit kusala-javana-citta können abwechselnd entstehen. Es gibt z.B. Menschen, die die Absicht haben, Mönchen Speisen zu geben. Beim Einkauf der Zutaten jedoch mag man feststellen, daß die Unkosten ziemlich hoch sind. In jenem Augenblick können citta, begleitet von Geiz, entstehen, und die javana-citta sind akusala citta. Somit verstehen wir, daß akkumulierte Befleckungen jederzeit wieder entstehen können, auch wenn man beabsichtigt, eine gute Tat zu begehen.

Wir häufen Heilsames und Unheilsames im javana- Bewußtseinsvorgang an. Es ist uns nicht möglich, javana-citta zu kontrollieren. Kennen wir jedoch die Bedingungen für die Entstehung des Heilsamen, kann dies uns helfen, weniger akusala citta zu haben.

Aus Mitgefühl und Erbarmen mit den Lebewesen hat Buddha auf die Bedingtheit der Entstehung von kusala hingewiesen. Er hat Menschen dazu angehalten, Heilsames zu tun, sei es Dana (Geben, Großmut), Sīla (Sittlichkeit) oder Bhāvanā (Geistestraining). Er hat den Weg zur Entfaltung der Weisheit gelehrt, die jede Art von akusala zu tilgen vermag. Es gibt viele Unterschiede in pañña (Weisheit). Paflñā, welches lediglich weiß, was kusala und was
akusala ist, ist nicht von demselben Stärkegrad wie die Weisheit, die akusala auszumerzen vermag. Wenn pañña (Weisheit) nicht zu dem Grad von vipassanā-paññā (dem Hellblickwissen) entfaltet wird, ist es immer noch ein 'Selbst', welches Heilsames kultiviert und von bösen Taten absteht. Solange die Idee von einem 'Selbst' besteht, können Befleckungen nicht ausgemerzt werden.

Der Mensch, der kein 'Edler' (Ariya) ist, vermag wohl die 5 Sittenregeln (sila) zu befolgen. Es besteht jedoch ein Unterschied zwischen ihm und dem 'Edlen', der sie auch befolgt. Der 'Nicht-Edle' kann sie brechen, wenn die rechten Bedingungen dafür entstanden sind. Für den 'Edlen' jedoch, den Ariya, bestehen keine Bedingtheiten mehr zum Übertreten der Regeln. Mehr noch, der 'Edle' hält auch das Einhalten der Sittlichkeitsregeln nicht mehr für Selbst, da er die latente Neigung zu falscher Ansicht ausgerottet hat. Somit ist seine Sittlichkeit reiner. Er befindet sich auf dem Wege zur Tilgung aller Befleckungen.

Wenn wir beim Erleben der Wirklichkeit nicht achtsam sind, halten wir die Objekte, die erlebt werden, für ein Selbst. Wenn pañña die erlebten Objekte als nāma und rūpa erkennt, Elemente, die nicht dauerhaft sind, besteht eine geringere Möglichkeit für akusala javana-citta.

Im ' Visudclhimagga' (I,55), lesen wir über den Ordensälteren Māha-Tissa:

'...Es scheint, daß, als sich der Ordensältere auf seinem Almosengang von Cetiyapabbata nach Anurādhapura befand, eine gewisse Schwiegertochter einer Sippe, die mit ihrem Ehemann gestritten hatte, zurechtgemacht und aufgeputzt wie eine himmlische Nymphe, sich von Anuradhapura zum Hause ihrer Verwandten aufmachte. Sie sah den Ordensälteren auf der Straße, und da sie niedrigen Geistes war, lachte sie laut auf. Verwundert, was das wohl sei, schaute er auf, und indem er Fäulnis in ihren Zähnen wahrnahm, wurde er ein Arahat. Deshalb wurde gesagt:

„Er schaute ihre Knochen, die man Zähne nennt, und vergaß nicht seine erste Wahrnehmung. Und noch auf der Stelle wurde der Ordensältere ein Arahat."

Der Ehemann, der ihr gefolgt war, sah den Ordensälteren und fragte: „Ehrwürdiger Herr, haben Sie durch Zufall eine Frau gesehen." Der Ordensältere antwortete ihm:

„Ob es eine Frau oder ein Mann war, was da vorbeiging, kann ich nicht sagen. Wohl aber geht auf dieser hohen Straße ein Bündel Knochen."'


Māha-Tissa war nicht in das Objekt vertieft, das er sah, noch von den Einzelheiten entzückt. Als er die Zähne der Frau sah, erkannte er die 'Fäulnis des Körpers', und was er sah, hielt er nicht für 'Selbst'. Die Wahrnehmung von der 'Fäulnis des Körpers' erinnert uns daran, das 'Selbst' nicht im Körper zu suchen, sondern körperliche Phänomene als rūpa zu erkennen, die nicht dauerhaft sind. Mahā-Tissa sah die Dinge, wie sie sind. Pañña war in jenem Augenblick so stark entwickelt, daß sie Befleckungen tilgen konnte.

In einem Tag entstehen unzählige javana-citta mit lobha, dosa und moha. Wir sollten deshalb nicht unachtsam sein, sondern eben so achtsam, wie möglich. Wir lesen in der 'Samyutta Nikāya' (Salayatana-vagga, Kindred Sayings on Sense, Second Fifty, par. 97, Dwelling heedless):

'In Savatthi wurde folgende Lehrrede gehalten... „Ich will Euch, ihr Mönche, über jene belehren, die unachtsam leben, und über jene, die gewissenhaft sind.
Höret! Und wie, ihr Mönche, lebt man unachtsam? Jener, ihr Mönche, der nicht Herr über sein Auge ist, dessen Herz wird von den erkennbaren Sehobjekten verführt. Und in jenem, dessen Herz verdorben ist, ist kein Entzücken. Ohne Entzücken gibt es keine Freude. Wo keine Freude ist, ist keine Gemütsruhe. Lebt man ruhelos, so lebt man in Sorgen. Das Herz des sorgenvollen Mannes ist nicht gelassen. Ist das Herz nicht gefaßt, hat man keine klaren Ideen. Weil er keine klaren Ideen hat, betrachtet man ihn als einen, der unbesonnen lebt.

Das gleiche gilt für die Fähigkeit des Schmeckens und des Denkens.
Und wie, ihr Mönche, lebt man aufrichtig? Das Herz dessen, ihr Mönche, der da Herr ist über seine Augen, wird nicht von den mit dem Auge erkennbaren Objekten verführt. In ihm, dessen Herz nicht bestechlich ist, wird Entzücken geboren. In jenem, der entzückt ist, wird Freude geboren. Wenn man sich freut, ist der Körper beruhigt. Jener, dessen Körper ruhig geworden ist, fühlt sich erleichtert. Besänftigt ist das Herz dessen, der sich erleichtert fühlt. Ist das Herz gefaßt, so sind die Ideen klar. Weil man klare Ideen hat, wird man als einer angesehen, der besonnen ist. Und das gleiche gilt für die Fähigkeit des Schmeckens und der Berührung.

So, ihr Mönche, verweilt einer, der aufrichtig ist." '



Fragen
  1. Hat der arahat nur lokuttara citta, welche die javana-Funktion ausführen, oder entstehen auch kāmāvacara citta (Bewusstsein der Sinnesebene), welche die javana-Funktion ausführen?
  2. Können vipāka-citta die Funktion von javana ausführen?