ABHIDHAMMAṬṬHA-SAṄGAHA VORWORT


Der hier zum ersten Mal in vollständiger deutscher Übersetzung vorliegende Abhidhamaṭṭha-Saṅgaha ist eine ganz kurzgedrängte, systematische, meist in aphoristischer Form dargebotene Zusammenfassung aller im Abhidhamma-Kanon und den dazugehörigen Kommentaren, insbesondere dem Visuddhi-Magga, zu findenden Lehren. Mit dem Studium dieses kleinen, grundlegenden Leitfadens beginnt in Burma und Thailand, den beiden Grundfesten der Abhidhamma-Gelehrsamkeit, das Studium des Buddha-Dhamma überhaupt. Alle jungen Mönche, und meistens auch die Laien, haben als erstes von ihrem Lehrer den Wortlaut dieses Werkchens auswendig zu lernen, und erst später werden sie mit dem Sinn und der Bedeutung der Worte vertraut gemacht. Später lernen sie dann auch den Wortlaut und den Sinn der Kommentare.

Die, besonders in den zusammenfassenden Merksprüchen, angewandte Sprache ist gedrungen und voller Eigenarten und des Metrums halber häufig dermaßen lakonisch und gekürzt, dass der Leser oft wesentliche Bestandteile zu ergänzen hat und ihm die Lektüre ohne jede Erklärung oder Anleitung schlechterdings unmöglich ist.

Der Titel des Werkes, 'Abhidhammaṭṭha-Saṅgaha', bedeutet wörtlich etwa: 'Zusammenfassung oder Kompendium der Wirklichkeiten', wobei man abhidhammaṭṭha, genauer gesagt abhidhammaṭṭha-dhamma, im Sinne von paramaṭṭha-dhamma, das ist 'im höchsten Sinne (wirkliche) Dinge', aufzufassen hat - wie zum Beispiel alle körperlichen und geistigen Daseinserscheinungen - im Gegensatz zu den im höchsten Sinne keine Wirklichkeit besitzenden sog. 'konventionellen Dingen' (vohāra-dhamma; s. B.Wtb.: paramaṭṭha-sacca) Beispiel Ich, Person usw.

Nach der burmesischen Tradition ist der Verfasser unseres Werkes ein singhalesischer Mönch namens Anuruddha, der dieses Werk in einem Kloster bei der alten Königstadt Polonnaruva in Ceylon verfasst haben soll, und von dem man annimmt, dass er nicht später als das 12. Jahrhundert und nicht früher als das 8. Jahrhundert gelebt habe. Zumindest begann der Abhidhammaṭṭha-Saṅgaha im 12. Jahrhundert, das bis dahin allgemein den Leitfaden zum Studium des Abhidhamma bildende, vollständig metrisch abgefasste, Kompendium 'Sacca-Saṅkhepa' zu verdrängen.

In Burma werden beide Werke unter den als die neun 'Kleinfinger-Handbücher' ('lo-than') bekannten Abhidhamma-Auszügen aufgezählt. Näheres hierüber s. SZA VIII.
Genau wie Visuddhi-Magga XIV-XVII - bzw. die entsprechenden Kapitel des mit jenem fast identischen, dafür zeitlich früheren und im 5. Jahrhundert ins Chinesische übertragenen Vimutti-Magga (s. Vis., Vorw.) - sich ganz auf Dhammasaṅgaņī und Paṭṭhāna (das erste und letzte Buch des Abhidhamma-Kanon) gründen, so ist das vorliegende Werk wiederum, mehr oder weniger, als eine ganz kurzgefasste, systematische Synopsis des Visuddhi-Magga aufzufassen.
Das Werk zerfällt in neun Teile. Darunter sind die, das eigentliche Werk bildenden sechs Teile über Bewusstsein, Geistesfaktoren und Körperlichkeit eine kurze Fassung von Vis. XIV über die fünf Daseinsgruppen.
Der größtenteils in Aufzählungen bestehende Teil 7 über die üblen, edlen und gemischten Kategorien ist ein Auszug aus Vis. XXII A,C und XVI.

Teil 8 besteht (1) in einer bloßen Aufzählung der zwölf-gliedrigen Formel der Bedingten Entstehung (paṭicca-samuppāda) deren ausführliche Beschreibung in Vis. XVII sich findet, während (2) die in demselben Kapitel ausführlich behandelten 24 Bedingungsarten hier aufgezählt und kurz beschrieben werden. (3) Der Abschnitt über 'Begriffe' ist hier völlig neu und interessant.
Teil 9, der die verschiedenen Menschenarten, die Entfaltung von Gemütsruhe und Hellblick (samatha-vipassanā) und die sieben Stufen der Reinheit behandelt, besteht aus summarisch zusammengefassten Aufzählungen von Vis. III, während die hier aufgezählten 40 Übungen der Gemütsruhe (samatha-kammaṭṭhāna) vollständig behandelt werden in Vis. IV-XIII, die Entfaltung des Hellblicks (vipassanā-bhāvanā) usw. aber in Vis.XVIII-XXIII.

Die drei bekanntesten Kommentare zum Abhidhammaṭṭha-Saṅgaha sind: (1) Porāņa-Tīkā von dem singhalesischen Mönch Navavimalabuddhi, (2) Abhidhammattha-vibhāvinī-Tīka von dem singhalesischen Mönch Sumangala, (3) Sankhepavaņņanā-Tīkā von dem burmesischen Mönch Jatipāla. Außerdem wurde ein in vieler Weise ganz neuartiger Kommentar, Paramaṭṭha-Dīpanī, von dem noch nicht lange verstorbenen, gelehrten burmesischen Mönch Dr. Ledi Sayadaw veröffentlicht. Ebenso hat mein alter Freund Prof. Dhammananda Kosambi, der als Mönch im Jahre 1904 zusammen mit mir eine Höhle in den Sagainbergen in Oberburma bewohnte, einen sehr leicht verständlichen Pāli Kommentar in Devanāgari-Schrift herausgegeben. Neben diesen Kommentaren findet sich noch in burmesischer Sprache eine ganze Reihe kleinerer exegetischer Schriften über unser Werk.

Die erste und einzige vollständige Übertragung in eine moderne Sprache, die mir übrigens schon im Jahre 1907 - also drei Jahre vor ihrer Veröffentlichung - als Manuskript vom Autor leihweise überlassen wurde, ist die englische Übersetzung des burmesischen Gelehrten Shwe Zan Aung (SZA) unter dem Titel 'Compendium of philosophy'. Sein Werk birgt eine gewaltige Fülle von Forscherarbeit und zeugt gleichfalls von einer gediegenen Kenntnis der westlichen Philosophen und seiner gründlichen Beherrschung des idiomatischen Englisch. In der Einleitung (S. 1-76) enthält das SZA'sche Werk eine Besprechung der im Abh.S. niedergelegten wesentlichsten Lehren, unter häufiger Vergleichung mit den Auffassungen westlicher Philosophen, und im Anhang (S. 223-85) zahlreiche Abhandlungen und Kritizismen über wichtige Abhidhamma-Begriffe, zu denen auch Mrs. Rhys Davids, die Herausgeberin des Werkes, ihren Teil beigesteuert hat. Der Übersetzungsteil als solcher aber kann, besonders ohne Einleitung und Anhang gründlich durchgearbeitet zu haben, vom Durchschnittsleser kaum verstanden werden, denn während der Lektüre vermisst er die zum Verständnis des spröden Textes unentbehrlichen Erklärungen, ohne die besonders die, am Ende jedes Kapitels gegebenen, zusammenfassenden Merkverse unmöglich zu verstehen sind.

Eine sich an SZA anlehnende, deutsche Teilübersetzung durch meinen Freund Govinda, München 1930, ist hier zu erwähnen. Dieselbe enthält eine philosophisch sehr interessante Einleitung und ist mit zahlreichen tabellarischen Übersichten versehen.
Eine Textausgabe mit englischer Paraphrase durch meinen Freund Prof. Kasyap von der Hindu-Universität, Benares, erschien als Band I seiner 'Abhidhamma-Philosophy', Sarnath 1942.

Ferner wäre noch zu nennen die englische Ausgabe des Werkes durch Dr. de Silva, die sich durch zahlreiche, wohl meist den Kommentaren entnommene, Erläuterungen auszeichnet, während Übersetzung und Fußnoten wörtlich von SZA übernommen sind.
Die Herstellung meiner deutschen Übersetzung sowie der Erklärungen wurde mir sehr erleichtert durch meine mannigfaltigen Vorarbeiten, besonders durch meine Übersetzung und Erläuterung des Visuddhi-Magga, meinen 'Guide through the Abhidhamma-Piṭaka', mein 'Buddhistisches Wörterbuch' sowie meine Abhandlungen über den Paṭicca-Samuppāda usw.

In der Übersetzung habe ich betreffs der Anmerkungen, Tabellen usw. dieselbe Anordnung befolgt wie bei meinem Puggala-Paññatti, Dhammapada, 'Wort des Buddha' usw., indem ich nämlich die Anmerkungen, wenn immer angängig, in Kleindruck innerhalb des Textes, und zwar stets nach kleinen Abschnitten, eingefügt habe, so dass der Fluss des Ganzen in keiner Weise gestört oder unterbrochen wird, wodurch dem Leser die Lektüre des Werkes einerseits sehr erleichtert wird und er anderseits nicht in Versuchung kommt, die zum Verständnis des Textes so unentbehrlichen Erklärungen zu übersehen.

Die am Ende der einzelnen Abschnitte und Kapitel das im vorangehenden Besprochene kurz rekapitulierenden metrischen Merksprüche habe ich, wie es eben in einer europäischen Übersetzung nicht anders sein darf, soll sie nicht lächerlich klingen und etwa an Busch-Verse erinnern, selbstverständlich in Prosa wiedergegeben, zum Teil sogar in Form von tabellarischen Übersichten, denen ich dann häufig noch erklärende Anmerkungen habe folgen lassen. Übrigens wird eine solche metrische Übersetzung dieser lakonischen Aussprüche kein Leser ohne Erklärungen verstehen können. Man urteile selber anhand der SZA'schen, vielleicht genauer gesagt Rhys Davids'schen, Knittelverse wie zum Beispiel:

"Single, double, triple function, fourfold, fivefold, two, Eight and sixty single, double two and triple nine. Quadruple eight, quintuple two: - the functions thus assign."

Um mich in den Erklärungen und Darlegungen nicht stets wiederholen zu müssen, habe ich sehr häufig auf mein 'Buddhistisches Wörterbuch* (B.Wtb.) und meine Visuddhimagga-Übersetzung (Vis.) hingewiesen. Letzteres gewaltig angelegte, systematische Werk könnte man nämlich, wie bereits oben angedeutet, als einen, auf alle Einzelheiten ausführlich eingehenden, Kommentar zum Abhidhammaṭṭha-Saṅgaha betrachten, oder auch den letzteren als eine Inhaltsübersicht über den Visuddhi-Magga.
In der Wiedergabe und Auffassung der technischen Ausdrücke unterscheide ich mich bisweilen in vieler Beziehung von meinen Vorgängern, worüber ich mich bei den in Frage kommenden Begriffen eingehend ausgelassen habe. So gebe ich z.B. javana wieder als 'Impulsion' (statt 'apperception'), kiriyā als 'karmisch unabhängig funktionierend' (statt 'inoperative'), kusala und akusala als 'karmisch-heilsam' und 'karmisch-unheilsam' (statt 'moral' und 'immoral),phassa als 'Bewusstseinseindruck' (statt 'contact'), rūpāvacara und arūpa° als 'feinkörperliche' und 'unkörperliche Sphäre oder Welt' (statt 'world of the form' und 'world of the formless') usw.

Wie auch in den meisten meiner anderen Werke habe ich es auch hier wieder für durchaus nötig erachtet, wiederholt die technischen Pāli-Ausdrücke in Klammern beizufügen.
Zum Schluss möchte ich noch einmal besonders betonen, dass die Lektüre des Buches beim Leser ein gründliches Verständnis des Wesens der buddhistischen Lehre und eine gute Kenntnis der technischen Grundbegriffe erfordert, so dass also einem völligen Neuling auf diesem Gebiet ohne Erklärungen der Sinn des Werkchens unverständlich bleiben muss. Ich glaube daher, den Leser dringend bitten zu müssen, bei der Lektüre stets mein Buddhistisches Wörterbuch zwecks wiederholten Nachschlagens zur Seite zu haben, wenn möglich auch meine Visuddhimagga-Übersetzung.

Trotz meiner beinahe wörtlichen Übersetzung glaube ich immerhin, das Werkchen so klar und deutlich wie nur irgend möglich gestaltet zu haben, so dass der gut vorbereitete Leser wohl imstande sein wird, anhand meiner vielen Anmerkungen und Hinweise das Werk in der richtigen Weise zu verstehen. Wie weit mir das gelungen ist, bleibe dem Urteil solcher Leser anheimgestellt.

Central Internment Camp
Dehra-Dun (U.P.), India
Juni 1945

NYĀNATILOKA MAHĀTHERA