ABHIDHAMMAṬṬHA-SAṄGAHA PROLOG

HANDBUCH DER BUDDHISTISCHEN PHILOSOPHIE

Anhang: Kommentarteil



Klassifikation der Wirklichkeiten - Kommentar


1. Dem unvergleichlich höchsten Buddha:
Der Buddha heißt der "Voll erleuchteter", weil er derjenige ist, der die ultimative Natur aller Phänomene sowohl in ihren besonderen als auch in ihren universellen Eigenschaften vollständig verstanden hat.
"Voll erleuchtet" bedeutet auch, die direkte Kenntnis aller Realitäten, die ohne die Hilfe eines Lehrers gewonnen wurde.
Der Buddha wird der „Unvergleichliche“ (Atula) genannt, weil seine Eigenschaften und Attribute von keinem anderen Wesen erreicht werden können. Obwohl alle Arahants die herausragenden Eigenschaften von ethischem Verhalten (sīla), Konzentration (samādhi) und Weisheit (paññā) besitzen, die ausreichen, um zur Befreiung zu führen, besitzt keiner die unzähligen und unermesslichen Tugenden, mit denen ein höchster Buddha voll ausgestattet ist - die zehn Kräfte von Tathāgata Wissen (Majjhima Nikāya 12), die vier Gründe des Selbstvertrauens (Majjhima Nikāya 12), das Erreichen großen Mitgefühls (Paṭisambhidāmagga I, 126) und das ungehinderte Wissen über Allwissenheit (Paṭisambhidāmagga I, 131).
Daher ist der Buddha unter allen Lebewesen ohne Gleichen. Wie es heißt: „Ein Wesen gibt es, ihr Mönche, das, in der Welt erscheinend, ohne einen Zweiten ersteht, ohne Gefährten, ohne einen, der ihm ähnlich wäre, ohne seinesgleichen, ... “ (Anguttara Nikāya 22).

2. Dem unvergleichlich höchsten Buddha, Der hohen Lehre, heil'gen Jüngerschaft, Entbot ich solchen Gruß und trage nun Den 'Grundriss aller Wirklichkeiten' vor:
Es ist eine etablierte Praxis im Pāḷi Buddhistische Tradition für Lehrende des Dhamma, ihre Ausführungen mit einem Vers der Zuflucht zu den drei Juwelen- dem Buddha, dem Dhamma und dem Sangha - zu beginnen – d.i. die ultimative Zuflucht für alle, die das unverzerrte Verständnis der Realität suchen.
Nach diesem Brauch eröffnet auch der Autor des Werkes "Abhidhammattha-Sangaha" Ācariya Anuruddha mit tiefer Hingabe seine Abhandlung mit einem Vers des Lobes, in dem er seine Verehrung für die drei Juwelen zum Ausdruck bringt.
Ein Gedanke der Verehrung, der auf ein würdiges Objekt gerichtet ist, ist ein heilsames Kamma, das im mentalen Kontinuum der Person, die einen solchen Gedanken hervorruft, Verdienste erzeugt. Wenn diese Verehrung auf die würdigsten Gegenstände gerichtet ist - den drei Juwelen -, ist der erzeugte Verdienst groß und mächtig. Ein solcher Verdienst, der sich im Geist angesammelt hat, hat die Fähigkeit, Hindernisse für die Erfüllung seiner tugendhaften Verpflichtungen abzuwehren und deren erfolgreichen Abschluss zu unterstützen.
Darüber hinaus ist für einen Anhänger des Buddha das Schreiben eines Buches über das Dhamma eine wertvolle Gelegenheit, die Vollkommenheit der Weisheit (paññāpāramī) zu entwickeln. Daher drückt der Anuruddha zu Beginn seiner Arbeit mit glückseligen Worten des Lobes seine Freude darüber aus, eine solche Gelegenheit zu erhalten.

3.[die erklärten Wirklichkeiten] im höchsten Sinne (paramatthato):
Gemäß der Abhidhamma-Philosophie gibt es zwei Arten von Wahrheiten – die konventionelle (sammuti) und die ultimative (paramattha), wenn wir uns mit unserem Denken bzw. Anschauungen oder durch unsere Sprache auf Dinge beziehen. Unsere verzerrte Anschauung im Alltag basiert auf einer Reihe von „Konventionellen Wahrheiten“, indem wir annehmen, das unseren »gewöhnlichen konzeptuellen Gedanken« (paññatti) oder »konventionellen Ausdrucksweisen« (vohāra-desanā) »feste Dinge« korrespondieren; diese sind jedoch lediglich durch Übereinkunft pragmatisch zur weltlichen Orientierung als existent festgesetzt worden.
Zum »konventionellen Denken« gehören Anschauungen mit Objekten wie "Ich" und "Du", "Lebewesen", "Personen", "Männer", "Frauen", "Tiere" oder "Gesellschaft", die uns als scheinbar stabil erscheinen und damit unser konstruiertes bzw. zusammengefügtes Welt-Bild ausmachen. Aus der höheren Sicht mit Weisheit betrachtet besitzen Anschauungen - verbunden mit diesen Begriffen - keine endgültige Wahrheit und die Objekte (paññatti-dhamma), auf die sie sich beziehen, existieren nicht tatsächlich als elementare Wirklichkeit oder Entität. Ihre Seinsweise ist rein konzeptionell, nicht wirklich, d.h. fiktiv; sie sind Produkte mentaler Konstruktionen (parikappanā), keine Realitäten oder Entitäten, die aufgrund ihrer Eigennatur (sabhāva) her existieren.
Im Gegensatz dazu sind nach der ultimativen Wahrheit entsprechen dem Denken reale Dinge, wenn sie aufgrund ihrer eigenen intrinsischen Natur (sabhāva) als erfahrbare Gegebenheiten existieren und nicht nur Kraft unseres Denkens bzw. einer Konvention. Dies sind die dhammas: die endgültigen, nicht reduzierbaren Bestandteile der Existenz, die endgültigen Wesenheiten bzw. Wirklichkeiten oder Entitäten, die sich aus einer wahrheitsgemäßen Analyse der Existenz ergeben. Solche Entitäten lassen keine weitere Reduktion zu, sondern sind selbst die letzten Objekte der Analyse, die wahren Bestandteile der komplexen Mannigfaltigkeit der Erfahrung. Daher wird auf sie das Wort paramattha angewandt, das sich von parama = „ultimativ, höchstes, letztes“ und attha = „Wirklichkeit, Ding.“
Obwohl ultimative Realitäten (paramattha-dhamma) als konkrete Charakteristik der Dinge existieren, sind sie so subtil und tiefgründig, dass sie ein gewöhnlicher Mensch ohne spirituelle Erfahrung sie nicht wahrnehmen kann. Solch eine Person kann die ultimativen Realitäten nicht sehen, weil ihr Geist von Konzepten verdunkelt ist, die Realität in konventionell definierte Erscheinungen formen. Nur durch weise oder gründliche Aufmerksamkeit für die Dinge (yoniso manasikāra) z.B. in der Vipassana-Meditation kann man über die reinen Konzepte hinaussehen und die ultimativen Realitäten als sein Erkenntnisobjekt nehmen. Somit wird Paramattha als das beschrieben, was gehört zum Bereich des ultimativen und höchsten Wissens.


Abbildung: Konventionelle und letztendliche Wirklichkeit anhand des semiotischen Dreiecks.

Es ist dieses Ziel des Abhidhamma diese objektiven Wirklichkeiten abzubilden– die dhammas, die ihre intrinsische Natur unabhängig von unserem Denken Gültigkeit haben.

4. Im höchsten Sinne(paramattha) vierfach sind:
Im höchsten Sinne kann man die bedingte existenzielle Wirklichkeit in vier letztendliche Arten von Wirklichkeiten aufteilen. Unsere individuelle Existenz bzw. Dasein lässt sich als ein Zusammenspiel von materiellen Entitäten (rūpa), der Entität „Bewusstsein“ (citta) und den Entitäten „geistige Faktoren“ (cetasika) darstellen. Zu diesen drei Arten von Realität, die bedingt sind (saṁkhata), wird eine vierte Realität hinzugefügt, die unbedingt ist (asaṁkhata). Diese Realität, die nicht in den fünf Aggregaten enthalten ist, ist Nibbāna, der Zustand der endgültigen Befreiung (vimutti) von dem innewohnenden Leiden in bedingter Existenz (saṁsāra).


Abbildung: Vier Wirklichkeiten und die zugehörigen dhammas.

Im Mittelpunkt oder besser noch an erster Stelle unserer bedingten Existenz steht eine Entität Bewusstsein als paramattha-dhamma. In den Sutten heißt es „Vom Geiste gehen die Dinge aus“ (vgl. 1. Vers Dhammapada), womit gemeint ist, dass das Bewusstsein der Vorläufer und Führer aller Dinge ist, indem dieser in einem geistigen Akt die Objekte der Wirklichkeit widerspiegelt; Bewusstsein entsteht mannigfaltig in verschieden Klassen - immer im Zusammenwirken der Geistesfaktoren „Wahrnehmung“ und Gefühl und einer spezifischen Auswahl von insgesamt 50 Formungskräften (sankhara-khanda) z.B. differenziert in den karmischen Bewusstsein nach Wurzel -Faktoren Gier, Aversion oder Verblendung oder im karmisch reinen Bewusstsein (sobhana-citta) z.B. mit Weisheit oder aber im karmisch-neutralen Bewusstsein verbunden mit Sehen, Hören, Riechen etc. oder Aufmerken am Sinnestor oder Geistestor ohne Wurzel-Faktoren. Bewusstsein entsteht immer in der Interaktion oder Zusammenwirken mit „materiellen Entitäten“ wie z.B. den fünf Sinnesorganen und den Sinnesobjekten (Seh- Hör-, Riech, Geschmack- und Körperobjekt). Die 28 materiellen Objekte der materiellen Phänomene bestehen im höchsten Sinne aus 18 Entitäten (vgl. Abhidhammattha-Sangaha, Abschnitt der Körperlichkeit).

In ganz besonderen Fällen der Befreiungserfahrung hat das überweltliche Pfad- und Fruchtbewusstsein die Entität „Nibbāna“ zum Objekt.

Weitere Anmerkungen zu den vier Wirklichkeiten:

1. Die Analyse des Daseins in „Fünf Khandhas“ ist Teil der „Vier Wirklichkeiten“:

In den Sutten analysiert der Buddha gewöhnlich das existenzielle Dasein eines Individuum in fünf Arten von ultimativen Realitäten, die fünf Aggregate (pañcakkhandhā): Materie / Körperlichkeit (rūpa), Gefühl (vedanā), Wahbrnehmung (saññā), (prädisponierend ) geistig Formationen (saṁkhāra) und Bewusstsein (viññāṇa). In der Abhidhamma-Lehre werden diese 5 Klassen in vier zusammengefasst, indem die Aggregate Wahrnehmung, Gefühl und Formungskräfte als Geistesfaktoren (cetasikas) zusammengefasst werden, die das Bewusstsein als geistige Begleiter unterstützen oder formen. Das Aggregat des Bewusstseins (viññāṇakkhandha) besteht hier aus Bewusstsein (citta), wobei das Wort citta im Allgemeinen verwendet wird, um sich auf verschiedene Bewusstseinsklassen zu beziehen, die sich durch ihre Begleiterscheinungen unterscheiden.
Das Aggregat der Materie (rūpakkhandha) ist natürlich identisch mit der Abhidhamma-Kategorie der Materie, die später in achtundzwanzig Arten von materiellen Phänomenen unterteilt wird bzw. der wahrer Natur nach 18 paramattha-dhamma ergeben (vgl. Abhidhammatthasanaha Abschnitt „Kompendium der Körperlichkeit“). Die vierte Wirklichkeit "nibbāna" ist nicht in den fünf Aggregaten enthalten, weil diese nur die bedingten paramattha-dhammas umfassen und nibbāna als Objekt frei von bedingter Existenz ist.


2. Paramattha-dhammas sind keine für sich bestehenden atomaren Entitäten.

Dazu schreibt Karunadasa in seinen Werk „Dhammatheorie 2011, S. 15):

„Mit dem Ziel vor Augen, die Natur der dhammas zu verstehen, greift der Abhidhamma auf zwei sich ergänzende Methoden zurück: die Analyse (bheda) und die Synthese (saṅgaha). Die analytische Methode überwiegt in der Dhammasaṅgaṇī, die traditionell das erste Buch des Abhidhamma Pitaka ist. Hier finden wir einen kompletten Katalog der dhammas, jeweils mit einer kurzen und prägnanten Definition. Die synthetische Methode ist charakteristischer für das Paṭṭhāna, das letzte Buch des Abhidhamma Pitaka; hier finden wir einen ausführlichen Katalog der bedingten Beziehungen der dhammas. Die Kombination dieser beiden Methoden zeigt, dass – nach dem im Abhidhamma benutzten methodischen System – „zu einer kompletten Beschreibung eines Dings beides benötigt wird, sowohl seine Analyse als auch seine Beziehungen zu anderen Dingen“. Sowohl Analyse wie auch Synthese spielen eine wichtige Rolle in der Methodologie des Abhidhamma. Analyse zeigt, dass die Welt der Erfahrungen auflösbar ist in eine Vielzahl von Faktoren. Synthese zeigt, dass diese Faktoren verbundene und abhängige Knoten in einem Beziehungsnetz sind, keine getrennten Entitäten, die für sich existieren. Nur zu Zwecken der Definition und der Beschreibung werden Dinge künstlich zergliedert. In Wirklichkeit ist die Erfahrungswelt ein gewaltiges Netzwerk von eng ineinander verwobenen Beziehungen.“



3. Die »dhammas« werden nicht durch sich selbst sondern durch Bedingungen und Gesetze getragen:

Man spricht von »dhamma« (Wurzel dhar tragen), weil die Dinge ihre eigene Natur tragen (attano sabhāvan dhārenti) und weil sie durch Bedingungen getragen werden (dhāriyanti paccayehi) (vgl Atthasalani, S. 93). Die Objekte werden durch Bedingungen und Gesetzmäßigkeiten getragen;
die Wirklichkeit bestimmt unser Dasein durch Bedingungen bzw. Gesetze und wir können die Gesetze der Wirklichkeit nicht ändern, sondern nur durch Entwicklung von Einsicht bzw. Weisheit mit ihnen in Harmonie gelangen.

Im Dhammapada wird die Gesetzmäßigkeit der dhamma zum Ausdruck gebracht (Dhammapada, Pfad-Kapitel Vers. 277 bis 279):

„Alle bedingten Dhamma sind vergänglich,
wenn man dies mit Weisheit sieht,
wird man des Leidens überdrüssig,
dies ist der Weg zur Befreiung

Alle bedingten Dhamma sind leidvoll,
wenn man dies mit Weisheit sieht,
wird man des Leidens überdrüssig,
dies ist der Weg zur Befreiung

Alle Dhamma sind ohne Selbst,
wenn man dies mit Weisheit sieht,
wird man des Leidens überdrüssig,
dies ist der Weg zur Befreiung“



4. Gegenstand der Einischtspraxis sind paramattha-dhammas.

Nyanarama „Sieben Betrachtung der Einsicht“ (S.165 und 167):.

„Betrachtet eure eigene Persönlichkeit. Ihr macht Gebrauch von dem Ausdruck "ich". Solche Alltagsphrasen wie "Ich gehe", "Ich erlebe", "Ich erkenne", "Ich tue", "Ich weiß" usw. schaffen den Eindruck, dass da ein reales unabhängiges "Ich" in einem existiert. Aber wenn dieses "ich" genannte Wesen untersucht wird, um sein wirkliches Wesen zu entdecken, ist alles, was wir finden, eine Kombination der fünf Anhäufungen - materielle Gestalt, Gefühl, Wahrnehmung, geistige Gestaltungen und Bewusstsein - welche ferner in Geist und Materie unterteilt sind. Was ist da unter all diesen Phänomenen der Existenz das, was man für ein reales "Ich" halten kann? Wenn der physische Körper weiter zerlegt wird in zweiunddreißig Teile - Kopfhaare, Körperhaare, Nägel, Zähne, Haut, Fleisch, Sehnen, Knochen [in Verbindung mit den vier Elemente vgl. Visuddhimagga, S.?] usw. - kollabiert die konventionelle Vorstellung eines "Ich". Wenn diese materiellen Phänomene weiter mit Weisheit analysiert werden, wird zu erkennen sein, dass sie alle aus den Grundelementen zusammengesetzt sind.“
….
„In und um uns sind immer die letztendlichen Realitäten wirksam, aber wir erkennen diese Wahrheit nicht wegen unserer Verblendung, avijjā oder Unwissenheit, welche ebenfalls eine letztendliche Realität ist und zum Bewusstseins-Element gehört. Durch das Akzeptieren von herkömmlichkeiten als letztendliche Wahrheit häufen wir mehr und mehr Leiden an.

Die verordnete Technik zur Beseitigung dieses Schleiers der Unwissenheit und zum Ans-Licht-Bringen der letztendlichen Wahrheit ist Einsichtsmeditation. Einsichtsmeditation beginnt mit einer herkömmlichen Realität als Objekt, wie z.B. Atemachtsamkeit, die zweiunddreißig Körperbestandteile oder das Heben und Senken der Bauchdecke. Wenn Achtsamkeit und Aufmerksamkeit des Meditierenden sich vertiefen, wird er die konventionelle Ebene übersteigen und direkt die letztendlichen Realitäten wahrnehmen. Durch wiederholte Betrachtung dieser letztendlichen Realitäten von verschiedenen Gesichtspunkten aus gewinnt der Meditierende Einsicht in die wahre Natur der bedingten Welt. Durch diese Einsicht rottet er die Neigung zur Welt aus und realisiert die überweltliche letztendliche Realität, Nibbāna, und erlangt dabei Befreiung vom Leiden.“


In der Einsichtspraxis der paramattha dhamma (vgl. Nyanarama. Sieben Betrachtungen der Einsicht, S. 43) geht es auch um die praktische Überwindung der falschen Ansicht über die allgemeine Natur bzw. die-Gesetzmäßigkeit der bedingten Dinge: